Überholte Rollenbilder

Wissenslücken über historische Verhältnisse werden gemeinhin rasch mit Bildern gefüllt, wie sie in der Gegenwart vorherrschen. So verfuhr auch Ernst Grauwiller, der Autor der Geschichte von ‹Ruhu, dem Höhlenbuben›, die Generationen von Baselbieter Schülerinnen und Schülern lasen: Während sich die Männer nach erfolgreicher Jagd «faul und schläfrig […] auf die sonnige Halde vor der Höhle» legten, war es an den Frauen, das Fell des erlegten Rentiers mit Steinschabern von Fleischresten zu säubern.⁽¹⁾ Doch diese Interpretation der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Urgeschichte sagt mehr über die aktuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau denn über die historischen Verhältnisse aus. Moderne archäologische Ansätze zeigen, dass auch Frauen aktive und erfolgreiche Jägerinnen sein konnten. Die Einschränkungen, denen Frauen durch Schwangerschaft und Geburt unterworfen waren, schätzt die Forschung heute geringer ein als früher. Zudem war die Bedeutung der pflanzlichen Nahrung vermutlich sehr viel grösser war als bisher vermutet. So stammten bei den Bewohnerinnen und Bewohnern subarktischer Regionen, deren Klima am ehesten mit demjenigen am Ende der Eiszeit vergleichbar ist, 50 bis 70 Prozent der Nahrungskalorien von Pflanzen, die Frauen sammelten und konservierten. Die Rolle, welche Frauen für das Überleben der ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften spielten, war somit gewichtiger, als ein bisher männlich geprägter Blick wahrnehmen wollte.⁽²⁾