Fortschritt?
«Die Arbeit hat unsere Lebenszeit konfisziert»(1), schrieb Karl Marx. Damit sprach er eine grundlegende Erscheinung des 19. Jahrhunderts und der Industrialisierung an. Fabrikordnungen und die Losung «Tempo, Tempo» waren etwas ganz Neues. Zudem war die Arbeit zur Ware geworden. Dabei gab es während des 19. Jahrhunderts durchaus ernst gemeinte und ernst genommene, weit verbreitete Gegenentwürfe und Kritiken. Nicht nur unverbesserliche Traditionalisten, Maschinenstürmer und Romantiker kritisierten oder ironisierten die Arbeitssucht und den Verschleiss an Menschen, Kraft und Landschaft. Der Fortschrittsoptimismus war nicht ungeteilt. Was aber ist Fortschritt? «Fortschritt ist für uns, für uns Arbeiter ist Fortschritt das, wenn’s jedem besser geht als früher»(2), sagte der Pratteler Gemeindepräsident von 1945 bis 1950, der Kommunist Hans Jeger-Weisskopf, noch Mitte der 1980er-Jahre im Gespräch. Dafür hatte er in den Organisationen der Arbeiterbewegung ein Leben lang gekämpft. Diese haben ihr Ziel erreicht: Achtstundentag, 44-, 42-Stunden-Woche, Fünftage-Woche, vier Wochen Ferien, AHV, dies sind alles ihre Errungenschaften. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts stiegen die Reallöhne. Den Menschen ging es im grossen Ganzen – von krisenhaften Einbrüchen abgesehen – immer besser. Ist also die Industrialisierung ein Segen? Hans Jeger-Weisskopf hat auch dafür eine einfache, aber nicht unzutreffende Erklärung: «Da ist längst nicht mehr alles einfach Fortschritt, was man früher als solchen bezeichnet hat.»
(1) Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 441
(2) Gespräch von Ruedi Brassel und Jakob Tanner mit Hans Jeger-Weisskopf, 14. August 1986, unveröffentlichtes Manuskript