Musik zur Unterhaltung und Bildung
Im Jahrhundert des bürgerlichen Nationalstaats erhielt der Gesang eine neue Funktion. Er begleitete nicht mehr vorrangig Arbeit und Fest, sondern wurde selbst zum Anlass von Geselligkeit und zum Ausdruck von Bildungsbestrebung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erinnerte sich der Gelterkinder Händler Friedrich Aenishänslin in seiner Autobiographie: «Andere sangliche Unterhaltungen bei Mitsängern, oder im Ochsen, und alle Samstage Sangstunde und Produktionen hie und da auf dem Dorfplatze, wenn man aus der Schule kam – waren noch viele wo es immer gemüthlich hergieng. Unter den Sängern herrschte Einigkeit und Brüderlichkeit. Da merkte man keinen Unterschied der Stände.»(1) Gesungen wurde nicht nur auf dem Dorfplatz und im Festzelt, sondern auch im Salon der kleinstädtischen Bürgerfamilien. Eine musikalische Ausbildung gehörte im 19. Jahrhundert zur Mitgift einer Bürgertochter, wurde zum Merkmal der bürgerlichen Frau stilisiert. So beschrieb zum Beispiel Carl Spitteler die Gattin seines Freundes Joseph Viktor Widmann: «Frau Widmann nämlich lebte mit der ganzen Seele in der Musik; sie konnte ohne Musik gar nicht ihres Lebens froh sein. In diesem Sinne war sie sogar noch musikalischer als Widmann selber, der zwar die Musik wie alles Schöne liebte, auch in der Jugend recht hübsch sang und leidlich Klavier spielte, der aber der Musik durchaus nicht bedurfte. Er konnte die Musik entbehren, sie nicht.»(2)
(1) Matthias Manz/Regula Nebiker: Mein Leben. Erinnerungen von Friedrich Aenishänslin (1815-1890), Gelterkinden, in: Baselbieter Heimatbuch 17, 1989, S. 122
(2) Carl Spitteler: Gesammelte Werke, Band 6, Zürich 1947