Die Akteure der Reformpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert
Plädoyer für staatliche Intervention
«Die soziale Frage, das Alpdrücken unserer Staatsmänner, die schwere Not unserer Zeit !», rief Emil Frey, ehemaliger Baselbieter Regierungsrat und alt Bundesrat, am 16. März 1908 seinen Zuhörern an einer freisinnig-demokratischen Versammlung in St. Gallen zu.(1) «Wir wollen auch in wirtschaftlichen Dingen den Grundsatz der Freiheit hochhalten; wir wollen die Freiheit, aber nicht die Freiheit des Starken zur Unterdrückung des Schwachen, sondern die Freiheit unter dem Schutze der Gerechtigkeit.» Das Staatsverständnis der Freisinnigen, wonach sich der Staat aus allen wirtschaftlichen Belangen heraushalten müsse, nehme an, das Wohl der Allgemeinheit resultiere aus dem freien Konkurrenzkampf der Individuen, führte Frey weiter aus. «Allein der wirtschaftliche Kampf wogt nicht zwischen wirtschaftlich Ebenbürtigen», erklärte der freisinnige Vordenker, «sondern zwischen wirtschaftlich Starken und Schwachen.» Die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen sei nicht kleiner, sondern grösser geworden. Emil Frey forderte seine freisinnigen Parteifreunde auf, nicht länger staatliche Eingriffe ins wirtschaftliche Geschehen abzuwehren. Um der schlimmsten Feinde der heutigen Gesellschaftsordnung, der Arbeitslosigkeit und der Trusts, Herr zu werden, müssten sie ihren alten Standpunkt überwinden: «Das laisser faire und laisser passer muss […] aufgegeben werden und an dessen Stelle das Bewusstsein der Verantwortlichkeit und der Pflicht treten. Der Staat muss einschreiten», schloss Frey seinen eindringlichen Appell.
(1) Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Jg. 16, Bd. 1, Bern 1908, S. 1-15
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